Neulich besuchte ich ein Indianerreservat. Diese Wohnsiedlungen der Ureinwohner kennen wir Europäer aus Wildwestfilmen. Aber es gibt sie wirklich. Ich habe mich davon überzeugt in Tyendinaga, einem Reservat im Nordosten der Provinz Ontario. Es liegt dort, wo der gleichnamige See sich zum Sankt-Lorenz-Strom verengt, dem Abfluss der Großen Seen Nordamerikas zum Atlantik. Dort leben die Mohawk, ein stolzer, alter Stamm der Iroquois, der neuerdings zu Reichtum gekommen ist. Die Mohawk von Tyendinaga handeln mit Cannabis. Seit einem halben Jahr ist die Droge in Kanada legal – auch die Indianer wollen daran verdienen.

Das Leben in den Reservaten ist oft hart und unter dem normalen kanadischen Lebensstandard. Die Orte in Tyendinaga haben erst in den letzten Jahren fließendes Wasser bekommen. Erst langsam schließen sie auf zu ihren weißen Nachbarorten. Ihr Reservat liegt zwar in schöner Landschaft, zwischen Autobahn und Seeufer inmitten dichter Wälder. Aber der Comfort ist sehr einfach. Die Mohawk lebten vom Fischfang, bevor sie Marihuana für sich entdeckten.

Am meisten beeindruckt hat mich eine 29-jährige Mohawk namens Seaire Maracle. Sie ist eine weise Frau ihres Stammes, wie es schon ihre Großmutter und deren Großmutter vor ihr waren. Seaire ist eine Autorität unter ihren Leuten – sie verfügt über altes Heilwissen, das ihre Vorfahren brauchten, um in der Wildnis zu überleben. Ihre Kompetenz reicht von Pharmazie bis Wahrsagerei. Sie mischt Salben, die gegen Verbrennungen und alle möglichen Wehwehchen helfen.

Wie viele Indianer fühlt sich Seaire nicht als Kanadierin, sondern in erster Linie als eine Mohawk. „Mein Volk bewegt sich frei in Nordamerika“, sagt sie. „Einen anderen Begriff von Heimat haben wir nicht.“

Kanadas First Nations leiden bis heute darunter, dass die weißen Siedler sie 500 Jahre lang systematisch verdrängt haben. Um Platz für Städte und Farmen zu schaffen, mussten die Ureinwohner in abgelegene Lebensräume weichen. Rund 600 000 Menschen leben heute in den Reservaten. Lange scherte sich die Regierung in Ottawa wenig um die First Nations. Erst der liberale Premierminister Justin Trudeau begann vor wenigen Jahren mit einer Versöhnungspolitik, die die Rolle der Indianer stärken soll in dem Völkergemisch, aus dem das moderne Kanada besteht.

Das fängt schon mit einfacher Infrastruktur an. Schätzungen zufolge würde es sechs Milliarden Euro kosten, um die Reservate endlich mit Trinkwasser zu versorgen – worum sich Politik und Behörden bisher nicht gekümmert haben. Das allerdings hat Trudeau in drei Jahren Amtszeit noch nicht geschafft.