Der Mensch fragt sich von Zeit zu Zeit, wo er noch Mensch sein kann. Zu Hause kann er das nicht, denn da läuft den ganzen Tag Netflix. An der Arbeit kann er das nicht, denn da wird gearbeitet. Im Urlaub kommt das Menschsein auch an Grenzen, denn da gibt es das gleiche Fabrikfutter, das man zu Hause im Gefrierschrank hat, nur eben auf dem Buffet, serviert von einem attraktiven Kellner.

Wo also? Zum Beispiel in der Stadtbibliothek. Toronto hat eine der größten und schönsten in Nordamerika. Die „Reference Library“ auf der Yonge Street im Herzen der kanadischen Metropole ist überhaupt der schönste Ort, an dem jemand in Ruhe arbeiten kann, der nur einen Laptop zum Arbeiten braucht. Deshalb sitze ich da oft. Diese Bibliothek ist mehr als nur ein Büchertempel. Die Reference Library bietet fast elf Millionen Artikel, darunter Zeitschriften, Filme, Dokumente aus der Stadtgeschichte und eben Bücher.

Vom Buch heißt es oft, es sei eigentlich tot – oder kurz davor. Lange Texte will kaum noch einer lesen, der unter 20 ist, sagen Studien. Können die auch gar nicht, weil ihnen das Smartphone die Konzentration für Geschichten raubt, die länger als ein paar Seiten gehen, sagen andere Studien. Das klingt nicht erfreulich für Bibliothekare. Aber Gillian Byrne sieht es gelassen. „Das Buch ist am Ende nur ein Behälter für Wissen, und nicht der einzige, den es gibt“, sagt die Managerin der Reference Library.

Trotzdem hat Byrne an sieben Tagen in der Woche volles Haus. 70 Prozent der 2,6 Millionen Einwohner Torontos nutzen ihre Stadtbibliothek. Damit hat das Haus mit gut 100 Mitarbeitern laut seiner Chefin eines der weltgrößten Bibliothekssysteme in Reichweite.

Viele kommen aber so gern in die Reference Library, weil es da warm ist, Wlan gibt und unten in der Lobby ein Café. Vor allem sind viele Leute da, die konzentriert studieren, unter die man sich mischen kann. Der außen unscheinbare 70er-Jahre-Bau ist innen hell, weiß und weiträumig. Die erste öffentliche Bibliothek an dieser Stelle entstand 1810, als Toronto noch York hieß und ein kleines Dorf war im großen ländlichen Raum oberhalb des Ontariosees.

Gillian Byrne sieht ihr Haus in erster Linie als ein öffentliches Gebäude, das jeder frei nutzen kann, wie er möchte. Deshalb kommen auch Obdachlose, um sich tagsüber aufzuwärmen oder sich in einer ruhigen Ecke auszuschlafen. Hier können sie Mensch sein. „Das gehört zu den sozialen Funktionen, die wir als öffentliche Einrichtung haben“, sagt Gillian Byrne. Sie ist 41 und stammt aus einer kleinen Stadt an der Ostküste Kanadas. Da musste man halt lesen, wenn einem langweilig war.